Jetzt kommt´s dicke
Tagesspiegel, 3. Juni 2022 / Berlin_extra
von Daniela Martens
In der Pandemie haben viele Kinder zugenommen. Eine Diät ist meist nicht ratsam. Wie Familien das mit Sport und Ernährung ändern können
Felix war nie ein ganz dünnes Kind. Aber auch kein dickes. Doch als er in die erste Klasse kam, begann die Pandemie und damit die Lockdowns. Das einst so bewegungsfreudige Kind saß auf einmal ständig mit einem elterlichen Smartphone in der Hand auf dem Sofa, hörte Hörspiele oder spielte Handyspiele. Felix heißt eigentlich anders, seine Mutter möchte nicht, dass die Familie in dieser Geschichte erkennbar ist. „Ich fühle mich, als hätte ich versagt“, sagt sie. So richtig schlecht habe sie sich bei der U-10, der kinderärztlichen Untersuchung gefühlt, die mit sieben bis acht Jahren empfohlen wird. Nach dem Wiegen kam heraus: Felix war beim Gewicht über die oberste, die 90. Perzentile gerutscht und damit übergewichtig. „Mit T-Shirt sah er eigentlich ganz normal aus, aber da auf der Untersuchungsliege sah ich schon, dass es am Bauch schwabbelte“, sagt seine Mutter. „Die Kinderärztin hielt mir dann eine Standpauke, wie ich das als Mutter geschehen lassen konnte.“ Etwa ein Jahr ist das inzwischen her, Felix mittlerweile fast neun Jahre alt - und immer noch übergewichtig.
Er ist kein Einzelfall. Gerade wurde eine repräsentative Forsa-Umfrage unter Eltern veröffentlicht, bei der herauskam, dass 16 Prozent der Kin der und Jugendlichen in der Pandemie dicker geworden sind. Bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es sogar 32 Prozent - und damit rund ein Drittel. Kinder aus einkommensschwachen Familien sind doppelt so häufig betroffen. „Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen“, sagt Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Halle/Saale.
Mindestens 10 000 bis 12 000 übergewichtige Berliner Kinder und Jugendliche bräuchten Hilfe beim Abnehmen, schätzt der Berliner Sportwissenschaftler Endré Puskas, der das Sport- und Ernährungsprogramm Fidelio im Sport-Gesundheitspark Berlin leitet, das sich an übergewichtige Kinder richtet.
Die Versorgung übergewichtiger Kinder sei derzeit eine „defizitäre“, sagt Weihrauch-Blüher. „Unsere Plätze reichen definitiv nicht aus. Wir haben eine lange Warteliste, es sind Wartezeiten von etwa einem halben Jahr. Der Bedarf ist da, aber nicht das Angebot“, bestätigt die Kinderärztin Almut Dannemann, die das Therapieprogramm „Mops fidel“ im Sozialpädiatrischen Zentrum am Sana Klinikum Lichtenberg leitet. Dort kümmern sich Ärztinnen, Psycholog:innen, Ökotrophologinnen, Physiotherapeutinnen und Sportlehrerinnen sowie Sozialpädagoginnen seit 2007 um stark übergewichtige Kinder, die von Kinderärzt:innen dorthin überwiesen werden, weil sie zusätzlich zum starken Übergewicht eine medizinische Indikation wie zum Beispiel eine Insulinresistenz, eine „Vorstufe" von Diabetes, oder hohe Cholesterinwerte haben „2003, als ich bei einem ähnlichen Programm an der Charité angefangen habe, war Diabetes Typ-II eine Rarität bei Jugendlichen - jetzt sehen wir mindestens vier Fälle pro Jahr, eher mehr“, sagt Dannemann. „Das hatte schon vor der Pandemie zugenommen. Aber so krasse Gewichtszunahmen in so kurzer Zeit, das haben wir vorher nicht gehabt. Es ist ein brennendes Thema. Wir haben viele Jugendliche, die sehr adipös sind und die aufgrund ihres Gewichts nicht in ein normales Arbeitsleben zu integrieren sind. Nicht umsonst spricht die WHO von einer Adipositas-Pandemie.“
Felix ist zwar übergewichtig, aber noch nicht adipös und hat auch keine medizinische Indikation, das Programm kommt also nicht für ihn in
frage. Was also tun? „Die Kinderärztin sagte, mein Mann und ich sollten unseren Sohn nicht mehr mit dem Lastenrad zur Schule bringen, er solle mehr selbst Fahrrad fahren, weniger Süßigkeiten essen und wir sollten ihn bei irgendeinem Sportverein für irgendein Training anmelden“, sagt Felix' Mutter. Informationen zur Ernährungsberatung oder zu Sport- und Ernährungsprogrammen bekam sie nicht von ihr.
„Wenn ein Kind übergewichtig ist, und es fängt an mit Basketball, Hand ball oder Fußball, hat es dort meist keine Erfolge und keinen Spaß. Viele hören dann schnell auf. Schon bei mittlerem Übergewicht kann das passieren“, sagt Endré Puskas, Leiter des Fidelio-Programms. Das Fidelio Programm dagegen sei konzipiert, dem vorzubeugen: „Unser Bewegungsansatz, ein schnelles Wechseln und Kombinieren vieler verschiedener Sportarten, macht Spaß und bringt schnelle Erfolgserlebnisse.“ Beim Fidelio-Programm brauchen Kinder nicht unbedingt eine Überweisung vom behandelnden Kinderarzt, Eltern können sich auch direkt dort melden (siehe Kasten).
Auch „Mops fidel“ setzt auf Sport: Klettern, Ballsportarten, Trampolin springen, Fitnesstraining und Bewegungsspiele werden dort angeboten. „Die Sportangebote sind regelmäßig einmal pro Woche. Jede Woche eine Ernährungsschulung, das würde nicht funktionieren, aber Sport bringt ganz viel: Ich merke etwa schnell, wenn ich auf dem Trampolin fitter geworden bin", sagt Dannemann.
Und auch beim Ernährungs- und Bewegungsprogramm Mobykids für übergewichtige Kinder mit ihren Familien wird auf regelmäßige Sportkurse gesetzt. „Viele Kinderärzte bauen tatsächlich auf den nächsten Wachstumsschub“, sagt Lina Krüger, Ernährungsberaterin und Gesundheitsmanagerin, die in der ambulanten Rehaklinik Vitalis in Brandenburg an der Havel für das Programm zuständig ist. Es gebe aber auch viele Kinderärzte die großen Wert auf Bewegungsprogramme legten: „Mehrere Brandenburger Kinderärzte sind vor eineinhalb Jahren auf uns als Rehaklinik zugekommen und haben uns gebeten, das Mobykids Programm anzubieten, weil so etwas hier dringend gebraucht wurde.“
Das Programm ist immer auf ein Schuljahr angelegt, es bezieht Eltern mit ein, einmal pro Woche gibt es ein Gruppentreffen mit Kindern und/oder Eltern - je nach Thema. Manchmal treffen sich auch parallel die Eltern- und die Kindergruppe. Wie für das „Mops fidel-Programm“ ist für eine Teilnahme an „Mobykids“ eine Überweisung vom Kinderarzt notwendig - und eine medizinische Indikation. Mobykids ist eine Art „Franchise“ aus Hamburg, das in vielen Deutschen Städten Kooperationspartner hat. Bis vor etwa sieben Jahren gab es das Programm auch am St. Joseph Krankenhaus in Tempelhof, dann wurde es eingestellt. Seitdem verweist das Krankenhaus Familien übergewichtiger Kinder an externe Ernährungsberater:innen. Oder nimmt sie als psychosomatische Patienten stationär auf. Zwölf Plätze gibt es für Kinder und Jugendliche aber nur - mit Warteliste.
Für weniger schwere Fälle wie Felix ist das wieder nicht das Richtige. Können Eltern es auch ohne Programm schaffen? Lina Krüger meint, das sei möglich, aber nicht leicht umzusetzen: „Wenn man genügend Zeit hat und meint, genug zu wissen“, sagt die Ernährungsberaterin. Eltern sollten dann nicht etwa zu dem Kind sagen: „Jetzt mach' mal Sport“ - sondern mit dem Kind zusammen aktiv werden. Mindestens eineinhalb Stunden pro Tag sollten Kinder in Bewegung sein, davon eine halbe Stunde außer Atem.
Und Eltern sollten Bildschirmzeiten einschränken. „Die Medienkompetenz vieler Eltern lässt zu wünschen übrig“, sagt Kinderärztin Dannemann. „Und wenn sie dann den Kindern die Geräte wegnehmen, sagen die: ,Was mache ich denn jetzt?' Die Eltern müssen ihre Kinder aktivieren. Eine gewisse Konsequenz gehört immer dazu. Und ein Angebot: Was kann das Kind draußen machen? Gibt es ein Jugendzentrum? Ein Sportangebot, das nicht leistungsorientiert ist?“
Grundsätzlich gilt fürs Abnehmen im „Mops fidel“-Programm: „Ohne die Eltern geht es nicht“, sagt Dannemann: „Es geht darum, dass Eltern ihre Erziehungskompetenz wahrnehmen müssen - und das können sie oft nicht. Wir hatten hier einen Dreijährigen, der bekam immer einen Wutanfall, wenn er keine Schokolade oder keinen Nachschlag beim Essen bekam - und konnte sich damit immer durchsetzen. Das geht ja nicht, da muss man überlegen: Wer ist denn bei ihnen der Boss? Wir machen auch eine soziale und eine Erziehungsberatung. Nur Eltern, die gut für sich selbst sorgen, können gut für Ihre Kinder sorgen.“
Bei Kleinigkeiten beginnt diese Sorge schon: „Anfangen könnten Eltern damit, auf die Getränke zu achten - sie sollten grundsätzlich nicht gesüßt sein“, sagt Dannemann. Auch bei den Eltern nicht. Milchprodukte solle es nur in Maßen geben. „Und Eltern sollten darauf bestehen, dass das Kind nur eine Portion isst, nachnehmen sollte es sich höchstens Gemüse.“
Bei der Ernährung gelte „auf jeden Fall fünf Portionen Gemüse und Obst am Tag als Grundcredo“, sagt Lina Krüger. „Und unverarbeitete Lebens mittel. Bei Kohlenhydraten auf Vollkornprodukte achten. Und vor allem weg von Wurst und Aufschnitt. Manche Kinder essen so viel davon. Ich sage immer: ,Probiert doch mal eine vegetarische Mahlzeit pro Tag.“ Das bedeute aber nicht etwa, Fleischwurst gegen vegane Salami eintauschen - sondern gegen Gurken und Radieschen.
Felix mag kein Gemüse, sagt seine Mutter. Wie schafft man es so ein Kind zum Gemüseessen zu bewegen? „Viele Kinder essen es, wenn es schon vorgeschnitten und griffbereit ist - und die Wiener Würstchen nicht in Reichweite sind“, sagt Krüger. Man solle Gemüse immer wieder anbieten und nicht immer nach der Nase der Kinder kochen. „Wenn Zucchini mit in der Sauce ist, dann ist es halt so.“ Dannemann hat noch einen Trick: „Wir sprechen in der Regel den Kindern gegenüber nicht von , gesundem Essen, sondern sagen: ,Iss doch mehr Frisches'."
Eine Diät zu machen und abzunehmen, ist bei Kindern nicht ratsam: „Wir empfehlen: Halte dein Gewicht und wachse“, sagt Almut Dannemann. Das gelte aber nur für Kinder und Jugendliche am Beginn der Pubertät, Jugendliche, die schon ausgewachsen sind, müssen abnehmen.
Felix geht jetzt zwei Mal die Woche zum Sport, er kommt beim normalen Fußballtraining gut mit. Zur Schule fährt er jeden Tag mit dem Fahr rad. Gemüse isst er immer noch nicht. Seine Mutter hofft auf den nächsten Wachstumsschub.
Kinder, die auf den Bildschirm starren. Eltern helfen ihrem Nachwuchs, wieder zu einem normalen Gewicht zu finden, indem sie die Medienzeiten reduzieren. Und wenn schon Knabberzeug zum Film - dann bitte Radieschen!
Foto: Getty Images/Johner RF
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